Hoffen – Helfen – Heilen

Rainer Wahl ist kein Mann, der viele Worte macht, wenn es um sein Gefühlsleben geht. Aber irgendwo in Italien gibt es einen kleinen 13-jährigen Jungen, der Wahls Gedanken seit Wochen durchstreift. Wahl ist 52 Jahre alt, Familienvater aus Birkenfeld und Fachkraft für Lagerwirtschaft im Globus Idar-Oberstein. Wahl ist Blutspender, hat einen Organspendeausweis und den hellblauen Stammzellspenderpass der Stefan-Morsch-Stiftung in seinem Geldbeutel – ein Glücksfall. Zufällig hat er die gleichen genetischen Merkmale wie eben dieses Kind in Italien. Ein Kind, das todkrank ist und ohne die Transplantation von Knochenmark keine Chance hat zu überleben.„Ich bin Blutspender und habe mich als Stammzellspender registrieren lassen, weil ich finde, dass man so mit einfachen Mitteln helfen kann“, erzählt Rainer Wahl. Seit 1997 ist er bei der Stefan-Morsch-Stiftung registriert. Schon vor einigen Jahren hatte ihn Deutschlands älteste Stammzellspenderdatei mit der Nachricht kontaktiert, dass er möglicherweise als Stammzellspender einem an Leukämie erkrankten Menschen die Chance auf Leben geben kann. Damals fand sich dann aber ein anderer Spender, der geeigneter war. Jedes Jahr erkranken allein in Deutschland etwa 11 000 Menschen an bösartigen Blutkrankheiten wie etwa der Leukämie. Jeder zweite Patient ist ein Kind oder Jugendlicher. Je nach Leukämieart variieren die Heilungsaussichten. Oftmals reicht die Behandlung mit einer Chemotherapie oder Bestrahlung aber nicht aus. Dann beginnt die Suche nach einem geeigneten Stammzellspender – jemandem mit den gleichen so genannten HLA-Werten. Wenn zehn von zehn dieser Gewebemerkmale übereinstimmen, hat man den optimalen Spender gefunden.
An einem Abend im Frühjahr 2013 klingelt bei Wahls in Birkenfeld abends das Telefon. Bettina Kleinemeier, Mitarbeiterin der Workup-Abteilung der Stefan-Morsch-Stiftung, hat Rainer Wahl direkt an der Strippe. Wieder einmal könnte es sein, dass er als Spender in Frage kommt… es sind weitere Bluttests erforderlich. Wahl kennt das Prozedere und lässt sich ein paar Milliliter Blut abnehmen. Ein paar Tage später bekommt er einen Brief von der Stiftung: Er ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der bestmögliche Spender. Über den Empfänger weiß Wahl zunächst nichts. Der Datenschutz lässt das nicht zu. Und das wird auch vorerst so bleiben. Denn als Stammzellspender hat er sich bereit erklärt, freiwillig und unentgeltlich für einen fremden, nicht-verwandten Menschen zu spenden.
Der begeisterte Motorradfahrer, der seine Freizeit gerne im Schwimmbad in Birkenfeld verbringt, freut sich. Nichtsdestotrotz beginnen seine Gedanken auf Wanderschaft zu gehen: Wie geht es wohl dem Patienten oder der Patientin, der da auf seine – Wahls – Stammzellen wartet und hofft? Was machen er oder sie und seine Familie gerade durch? Er weiß, dass diese Situation die Hölle sein muss. Um sich selbst macht er sich zu diesem Zeitpunkt wenig Gedanken: „Durch die Gespräche mit den Experten der Stefan-Morsch-Stiftung und den Ärzten und Schwestern der Entnahmeklinik in Wiesbaden, sowie durch die Voruntersuchungen, hatte ich grenzenloses Vertrauen. Schließlich haben schon Tausende Menschen vor mir, unbeschadet Stammzellen gespendet“, erzählt Wahl.
Die Voruntersuchungen dienen dazu, herauszufinden, ob er wirklich der optimale Spender und vor allen Dingen gesund ist. Denn es soll ausgeschlossen werden, dass der Spender ein gesundheitliches Risiko eingeht. Die Mitarbeiter der Stefan-Morsch-Stiftung beraten und begleiten den Spender während dieser ganzen Vorbereitungsphase. Jegliche Kosten für die Untersuchungen, die Versicherung, An- und Abreise zum Entnahmeort werden übernommen.
Dann beginnt die entscheidende Phase vor der Transplantation: Mit der Übertragung von Stammzellen bekommt der Patient ein neues blutbildendes System. Die Stammzellen befinden sich im Knochenmark. Um sie zu übertragen, gibt es zwei Möglichkeiten: Die Entnahme peripherer Blutstammzellen aus dem Blut – ähnlich wie bei einer Plasmaspende oder Dialyse. Apherese heißt dieses Verfahren, das heute am häufigsten angewandt wird. Bei Rainer Wahl wird jedoch die klassische Methode – eine Knochenmarkentnahme – gemacht. Dabei punktieren die Mediziner den Beckenkamm des Spenders und entnehmen etwa 0,8 bis 1,5 Liter Knochenmark-Blut-Gemisch. Dieser Eingriff dauert durchschnittlich eine Stunde.
Aber bis dahin war es noch ein langer Weg, denn die Entnahme wurde immer wieder verschoben. Rainer Wahl wusste, was das bedeuten kann: Dem Patienten geht es nicht gut! Er und seine Familie, aber auch sein Arbeitgeber, Globus in Idar-Oberstein, stellen sich immer wieder auf diese Terminverschiebungen ein. Rainer Wahl, der von sich behauptet „Ich bin in gewisser Weise ein Hallodri“, weiß, dass nun vieles von ihm abhängt: „Ich fahre Motorrad – gehe gerne ins Schwimmbad. Ich kenne keine Grippe. Aber ich fühlte mich plötzlich für jemanden verantwortlich. Wenn mir etwas Blödes passiert, so dass ich die Spende nicht machen kann. Davor hatte ich ein bisschen Angst.“ Andrea, seine Frau, lächelt sanft und erzählt später: „Er ist kaum noch Motorrad gefahren. So kannte ich ihn gar nicht.“
Parallel zur Vorbereitung des Spenders wird in der behandelnden Transplantationsklinik der Empfänger vorbereitet. Das bedeutet: Sein Immunsystem wird komplett ausgeschaltet – durch Bestrahlung oder/und Chemotherapie. Wenn er sich jetzt mit einem Virus infiziert oder es aus irgendeinem Grund mit der Stammzellspende nicht klappt, ist sein Leben massiv gefährdet. Emil Morsch, Vorstandsvorsitzender der Stefan-Morsch-Stiftung: „Eine Transplantation ist immer eine letzte Chance. Für den Patienten ist dies eine hoch belastende Therapie.“
Ende November ist es dann soweit. Rainer Wahl bekommt die Nachricht, dass er zur Entnahme nach Wiesbaden reisen kann. Am Abend vorher wird er im Knochenmarktransplantationszentrum der DKD Wiesbaden aufgenommen. „Der Chefarzt dort hat mich noch einmal untersucht. Er wollte absolut sicher gehen, dass es mir gut geht“, erzählt der 52-Jährige. Am nächsten Morgen kommt er in den Operationssaal. Eine gute Stunde später wird er wieder wach. Zwei kleine rote Punkte oberhalb seines Gesäßes und ein leichtes Druckgefühl sind alles, was von dem Eingriff übrig geblieben sind. Zumindest auf den ersten Blick und ganz nüchtern betrachtet.
Denn nach der Operation erfährt Rainer Wahl, dass sein Empfänger ein kleiner 13-jähriger Junge ist, der in Italien lebt. Der 52-Jährige setzt sich hin und schreibt einen Brief an das Kind und seine Familie. Anonymisiert ist eine solche Kontaktaufnahme erlaubt. Ein direkter Kontakt ist aber erst nach zwei Jahren möglich. Über die Stefan-Morsch-Stiftung wird der Brief übersetzt und weitergeleitet. „Ich habe nicht lange überlegt und einfach angefangen zu schreiben“, erzählt Rainer Wahl gut anderthalb Wochen nach der Spende. Und dann kam eine Mail, wieder über die Spenderdatei. Rainer Wahl ist aufgeregt: „Die Transplantation ist ohne Komplikationen verlaufen“, freut er sich. „Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk.“ Er hofft nun, dass auch weiterhin „alles gut geht“ und der Junge gesund wird. Denn in jedem Fall will er, wenn es der Empfänger möchte, ihn und seine Familie kennenlernen. Körperlich hat er die Spende gut überstanden, aber in seinen Gedanken hat der 13jährige Junge aus Italien nun einen festen Platz eingenommen. An Heiligabend wird er in der Kirche sitzen und wieder ganz feste an ihn denken: „Und ich bin mir sicher, dass ein tausend Kilometer weit weg, auch jemand bei mir ist.“

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