Hoffen – Helfen – Heilen
23. Januar 2022

„Ich stelle mir vor, wie deine Gedanken uns umgeben, wie unsichtbare gute Geister.“

Es sind Momente wie dieser, die uns ans Herz gehen, immer wieder aufs Neue motivieren und für unsere Arbeit begeistern. Wir wissen, wie abstrakt das ist, sich für einen unbekannten Menschen als Stammzellspender:in registrieren zu lassen. Was es für die Betroffenen bedeutet, lest ihr in diesem Brief, den die Mutter einer kleinen Leukämie-Patientin an ihren unbekannten Spender geschrieben hat.

„Lieber Spender,

wer immer du bist. Irgendwann einmal hast du dich für eine potenzielle Stammzellspende registrieren lassen. Als ich begann, dir diesen Brief zu schreiben, wussten wir von dir nur, dass es dich gibt. Seitdem wächst er, also der Brief, jeden Tag in alle Richtungen weiter und heute versuche ich, aus meinem Gekritzel und all den Ergänzungen und Korrekturen schlau zu werden und ihn zu Ende zu bringen.

Vor einiger Zeit hat man Kontakt zu dir aufgenommen. Du bist der Gesuchte, hat man dir gesagt, der genetische Zwilling. Untersuchungen folgten, alles passte. Und du warst immer noch einverstanden. Man hat dir Knochenmark entnommen und es auf die Reise geschickt. Ich habe mich oft gefragt, wie es wohl ist, so etwas für eine vollkommen unbekannte Person zu tun. Und umgekehrt bist du ja für uns auch vollkommen unsichtbar; trotzdem zählen wir dich jetzt zum Kreis derjenigen, die hoffen und wünschen, dass alles gut wird. Dass es eine Zukunft gibt.

Ich stelle mir vor, wie deine Gedanken und Wünsche uns umgeben, wie unsichtbare gute Geister. Denn es ist so: Die Person, deren Zukunft durch dein Knochenmark wieder möglich wird, ist unsere Tochter.

Ihre Krankheit begann irgendwann im Juni, letztes Jahr. Traf sie zu einem Zeitpunkt ungebremster Vorfreude auf den sechsten Geburtstag, die Einschulung, die erste Zahnlücke. Sie hatte verschiedene Symptome und wir hatten viele Fragen und ein Bauchgefühl. Irrten von Arzt zu Arzt, strandeten schließlich in der Kinderklinik. Ich weiß noch, wie meine Gedanken sich sperrten, als wir unsere Station zum ersten Mal betraten, so als müsste ich sie erst mühsam Wort für Wort vom Blatt ablesen. Wir sahen einen kleinen Jungen ohne Haare, der auf dem Flur mit seinem Papa Fußball spielte. Aha, stand auf dem Gedankenblatt, aha, auf dieser Station gibt es also Kinder, die Krebs haben. Mit der Diagnose fielen alle Puzzleteile an ihren Platz. Die geschwollenen Augen, die Gelenkschmerzen, die blauen Flecken, die Infekte. Akute myeloische Leukämie mit Myelosarkom.

Miese Krankheit. Fiese Behandlung. Keine Einschulung.

Wie soll ich das meiner Tochter sagen, fragte ich. Sie hat schon die Einladungskarten gebastelt. Die Stifte sortiert. Den Ranzen ausgesucht. Ihren Schreibtisch eingerichtet. Das Schildkrötenbild für die Einschulungsfeier ausgemalt. Wie blöde man ist, wenn man unter Schock steht. Verstehen Sie nicht, sagte die Ärztin. Die Einschulung ist jetzt nicht das Problem! Wir müssen JETZT das Leben Ihrer Tochter retten, sonst wird es keine Einschulung geben! Nie.

Unsere Tochter verstand ihre Lage in Etappen. Zuerst war sie wütend. Ich bin dagegen! Ich gehe in die Schildkrötenklasse! Das darf mir keiner verbieten! Das ist gegen das Gesetz! Dann traurig. Ich will nie älter als sechs werden. Und dann wiedergeboren werden. Das Lachen wird nie mehr zu mir gehören. Angst hatte sie auch. Und Fragen. Ob es wehtut, wenn man stirbt, zum Beispiel. Ob ihr irgendjemand etwas Böses gewünscht haben könnte.

Die ersten Tage, ja, Wochen, waren ein zermürbender Kampf um jeden Piks, jeden Pflasterwechsel, jede Untersuchung, und schließlich wurde ich deutlich: Du kämpfst gegen den falschen Feind! Wir brauchen dich im Team! Du-musst-über-leben-wollen! Es ist schlimm. Aber es muss sein. Und dann wird alles wieder gut. Das verspreche ich.

Foto: shutterstock – beenicebeelove

Mit hochgekrempelten Ärmeln, Mut und Tapferkeit, verblüffender Weisheit, Liebe, Geduld und viel Witz bietet sie seither ihrer Krankheit die Stirn. ‚Was hast du da?‘, fragte ich sie eines Morgens, als sie schon fast keine Haare mehr hatte. ‚Sieh‘ mal‘, sagte sie, ‚ich hatte heute Morgen so schlechte Laune, da hab‘ ich die Zeit genutzt und ein Einhorn gebastelt‘. Und das ist, wofür sie kämpft: Reiten lernen, zur Schule gehen, Riesenrad fahren, eine Gartenparty feiern, Erdbeeren essen, mit Kindern spielen, Schlittschuh fahren.

Wir hatten plötzlich einen neuen Alltag, immer auf Adrenalin, immer die Koffer gepackt, das Telefon griffbereit. Sie hat Fieber, wir kommen, wir sind gleich da. Chemo, Zelltief, Erholung. Nur noch fünfmal. Noch drei. Zwei. Nur noch einmal. Und dann. Ich verspreche es.

Kurz nach Weihnachten rief mich unsere Ärztin zu sich. Es tut mir so leid, sagte sie. Es kommt mir vor, als müsste ich einen eiskalten Eimer Wasser über Ihnen ausschütten. Sie sagte etwas von einem Restbefund und von Zelleigenschaften. Sie sprach über ein sehr hohes Rezidiv-Risiko und schließlich: Knochenmarktransplantation.

Unsere Tochter war tapfer. Sie fand das lsolationszimmer prima, das wir besichtigen durften. Eine rote Klobrille, oh Mann! Und blaue Schränke! Ihre Lieblingsfarben! Und vielleicht würden wir ja auch das Hubschrauberzimmer kriegen, da hätte man dann was zum Gucken! Ich glaube aber auch, sie hielt die Knochenmarktransplantation für so eine Art Chemo plus, oder so. Kannte sie ja schon. Muss man davor Angst haben? Sie fragte, warum sie denn jetzt doch noch mal reiten dürfe, wie lange es wohl dauern und ob der Bruder bei ihrer Entlassung in der Pubertät sein würde. Ob sie wohl weinen würde auf der KMT-Station.

Ich begann mit der Vorbereitung, wusch, desinfizierte, fror ein, verpackte: Spielzeug, Bücher, Kuscheltiere, Lichterketten, Bastelkram, Pferdefotos. Langeweile wird schon mal kein Problem werden, dachte ich und wusch, desinfizierte, fror ein, verpackte: meine Angst.

Zum Glück hat man dich schnell gefunden. Der Transplantationsplan las sich wie ein Countdown zum Raketenstart. Bei Tag Minus 9 haben wir angefangen zu zählen, – 8 – 7, – 6 … Null.

Raketenstart war der 17. März 2021. Seitdem zählen wir wieder aufwärts.

Deine Spende sah aus, wie eine dieser ganz normalen Bluttransfusionen. Nicht gelb, wie die Thrombozyten, sondern rot, wie Erythrozytenkonzentrat, oder ‚Partyblut‘, wie unsere Tochter es nennt, weil sie davon immer so munter wird. Sie hing da, deine Spende, in einem Beutel, und tropfte in unser Kind hinein. Der Papa hat’s gefilmt und ein bisschen geweint. Wir haben alle kurz die Luft angehalten.

Die Beschreibung der darauffolgenden Wochen erspare ich dir. Sie waren schlimm. Langeweile war kein Problem. Es dauert etwa drei Wochen, bis das neue Knochenmark beginnt anzuwachsen. Und dann heißt es Top oder Flop, sagte eine Krankenschwester. Flop, wenn es abgestoßen wird.

Meine Tochter wollte dein Knochenmark eigentlich zuerst gar nicht. Weil sie dich nicht kannte. Das hat ihr Angst gemacht. Sie hätte lieber das von ihrem Bruder bekommen, aber das passte nicht. Und dann – waren sie da, die ersten 100 Leukozyten und wir feierten! Und dann feierten wir die ersten drei Tage in Folge über 1000: Regeneration – nicht abgestoßen! Wir feierten das erste wieder gesprochene Wort, die erste Nacht ohne zusätzlichen Sauerstoff, den ersten getrunkenen Schluck Wasser, das erste Aufsetzen im Bett, das erste Lachen, jeden Schritt nach vorn. Und wagten kaum zu atmen; als Komplikationen eintraten und es wieder rückwärtsging, gefährlich wurde.

Unser Kind im Lockdown sehnte sich nach seinem Bruder und Wind auf der Haut. Das ist komisch, sagte sie, ich sehe den Wind da draußen, weil der Baum sich bewegt. Aber ich weiß nicht mehr, wie er sich anfühlt.

Von dir kam Post. Ein Brief, eine Kette mit Lebensbaum. An diesem Tag fand unsere Tochter zum ersten Mal die Kraft, auf der Bettkante zu sitzen. Ja, es gibt sie wohl, diese besondere Verbindung. Ich lese sie in deinem Brief, den ich unzählige Male vorlesen musste. Ich sehe sie, wenn meine Tochter ihn auspackt, glattstreicht, betrachtet, zusammenfaltet, einpackt. Erst mit deinem Brief wurde es offiziell: Top – Regeneration, nicht gruselig, nicht abgestoßen!

Nach 74 Tagen in der Isolation durften wir unser Kind endlich wieder zu uns holen. Zu uns und in die neue Freiheit – mit Blutdruckmessgerät, Magensonde, einer Armada von Medikamenten und Zukunft im Gepäck. Und mit Wind auf der Haut.

Foto: shutterstock – africa-studio

Inzwischen hat unsere Tochter ihren siebten Geburtstag gefeiert – mit Kindern. Hat das Seehundbild für die Einschulungsfeier ausgemalt und wurde eingeschult. Sie schafft fast jeden Tag vier Schulstunden, erzählt von den anderen Kindern, findet Hausaufgaben super.

Es wird wieder gut, war unser Versprechen. Zuerst mit Vorsicht, dann trotzig und entschlossen beginnt sie, beginnen wir, wieder daran zu glauben.

Alles ist neu. Wir fangen an.

Danke. Danke, Danke!“


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