Hoffen – Helfen – Heilen

„Eyjafjallajökull“ gehört zu den schwierigen Worten mit dem Ninette Schumacher seit geraumer Zeit vertraut ist. Noch besser als den isländischen Vulkan, kennt sie sich mittlerweile im medizinischen Vokabular aus. Denn ihr Liebster, Günter Niehoff, hatte Leukämie.Und der Berg in Island war längst nicht die einzige Hürde, die der Patient  im Kampf gegen den Blutkrebs zu überwinden hatte. Doch ohne einen wildfremden Mann aus dem Münsterland, könnten die beiden 2012 nicht Hand in Hand in Nienhagen auf der Couch sitzen und auf die Ostsee schauen.

Das Leben zieht seltsame Kreise: Günter Niehoff ist in Gronau geboren, in Ahaus aufgewachsen, der zunächst unbekannte Stammzellspender kommt aus dem Münsterland und die Ärztin, dank der Niehoff überhaupt eine Chance hatte, die Leukämie zu überleben, arbeitet heute in Dülmen.  „Wenn Dr. Andrea Bastin uns am 15. Dezember 2009 als Günter in das St. Joseph-Hospital in  Bremerhavener Krankenhaus kam, nicht sofort die Diagnose gestellt und uns ohne Umschweife erklärt hätte, dass er ohne Chemotherapie an Heiligabend tot wäre, dann …“. Ninette und Günter hatten sich gerade Mal 10 Monate vorher kennengelernt: „In unserem Alter noch einmal eine große Liebe und dann das. Wir waren fassungslos“,  erzählt die Frau, die mit ihm diese schwere Zeit durchgestanden hat.

Als sie an Heiligabend vom Krankenhaus nach Hause fährt und aus dem Bus aussteigt, schreit sie laut gegen das gegenüber liegende Kirchenportal an: „Lieber Gott, vor 2000 Jahren hast Du deinen Sohn auf die Erde geschickt, nimm mir meinen Mann jetzt nicht weg.“ Die Ärzte hatten ihr keine Hoffnung gemacht, dass „Günni“ die Nacht überlebt.  Günter überlebt. Er überlebt das dreiwöchige Koma, er überlebt die Sepsis, er überlebt die Chemotherapien. An manches kann sich Günter Niehoff nicht mehr erinnern, weil er dem Tod näher war, als dem Leben. Aber rückblickend sagt er: „Es war die Hölle!“ Nach der zweiten Chemotherapie aber steht fest, wenn er überhaupt eine Chance haben soll, die Krankheit zu überleben, dann braucht Günter Niehoff eine Stammzelltransplantation.  Schnell steht fest: In der eigenen Familie gibt es keinen geeigneten Spender.  Er braucht einen Fremdspender. Voraussetzung für eine Stammzelltransplantation ist die weitgehende Übereinstimmung der HLA-Gewebemerkmale (Humane Leukozyten Antigene) von Empfänger und Spender. Für immerhin 60 bis 70 Prozent der Leukämiekranken findet sich kein Verwandter, der als Spender in Frage kommt. So bleibt ihnen nur die Hoffnung, dass für sie ein nicht-verwandter, freiwilliger Spender gefunden wird. Bei der großen Vielfalt der Gewebemerkmale in der Bevölkerung (theoretisch gibt es mehr als 50 Millionen Kombinationen) ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Merkmale bei zwei nicht verwandten Menschen übereinstimmen, jedoch nicht sehr groß. Sie variiert von 1:1000 bis 1:mehreren Millionen. Deshalb verläuft noch so manche Suche erfolglos.

Doch für Günter Niehoff, der inzwischen an die Uniklinik Hamburg weitervermittelt wurde, finden sich zwei Spender in den weltweit vernetzten Spenderdateien. Er und seine Frau sind glücklich: „Man hat uns gesagt. Wenn zwei zur Auswahl stehen, nehmen wir den jungen, schönen Spender. Wir dachten, nun  kann nix mehr schiefgehen. Wir wussten nicht, was für ein großes Stück Arbeit noch vor uns liegt.“  Was wie eine nette Aufmunterung klingt, hat einen klaren therapeutischen Hintergrund.  Klar werden die Spender nicht aufgrund ihres Aussehens ausgewählt. Aber Alter und Geschlecht spielen schon eine Rolle, wenn mehrere Spender zu Verfügung stehen.  Das Immunsystem eines Menschen erkennt Zellen eines anderen Organismus als fremd und versucht, diese zu zerstören. Dieser Vorgang ist normalerweise ein wichtiger Abwehrmechanismus des Körpers gegen fremde Zellen wie z. B. Infektionserreger.  So haben Frauen nach einer Schwangerschaft verstärkt Antikörper. Deshalb wählen Transplantationskliniken – falls mehrere Spender zur Verfügung stehen – nach folgenden Kriterien aus: Männer vor Frauen, lieber jung als alt.

Nach einer allogenen Stammzelltransplantation führt der Abwehrmechanismus, der mit dem Transplantat des Spenders, verpflanzt wird, beim Empfänger zu einer Abwehrreaktion, die tödlich enden kann.  Dieser Kampf ist eine Gratwanderung. Denn damit Günter Niehoff überhaupt eine Transplantation erhalten konnte, musste seine eigene Immunabwehr ausgelöscht werden.  Bekommt er jetzt eine Infektion oder keine neuen Stammzellen ist sein Leben massiv gefährdet.

Anfang April 2010 ist es soweit:  Während Günter Niehoff so konditioniert wurde, hatte die Stefan-Morsch-Stiftung den passenden Spender in ihrer Datei vorbereitet. Der Mann kommt aus Gescher nach Birkenfeld in die Entnahmestation. Ein Kurier der Hamburger Klinik soll den Beutel mit den Stammzellen nach Hamburg bringen. So schnell als möglich – per Flugzeug. Doch was niemand ahnt:   Die monatelangen Vorbereitungen, die Absprachen, das ausgeklügelte Zeitmanagement, zwischen Transplantationsklinik, der Entnahmestation der Stefan-Morsch-Klinik und dem Spender wird durch einen Vulkan in Island gefährdet: „Eyjafjallajökull“  ist ausgebrochen und seine Staubwolke legt den gesamten Flugverkehr lahm, auch in Deutschland. Bange Stunden vergehen. Günter Niehoff ist nicht mehr ansprechbar. Sein Zustand kritisch. Ninette Schuhmacher erinnert sich: „Nachts um 1.30 Uhr kam die Ärztin rein und rief fröhlich: „Die Zellen sind da – wie andere – der Kaffee ist fertig, rufen.“  Sofort wird die Infusion angehängt. Acht Tage später wird ihr „Günni“ entlassen. Nachsorge, bis zu 40 Tabletten am Tag und eine engmaschige Kontrolle sichern den langsamen Weg zurück ins Leben ab. Noch immer ist das kein leichtes Leben, aber eines mit Zukunft. „Ich wünsche mir noch ein paar Jahre mit Ninette, der Frau, die ich liebe. Meine Partnerin hat mich begleitet, sie hat es nicht verdient, allein zu sein“, sagt Günter Niehoff.

Die Gedanken an den Spender, der Günter und Ninette diese Chance gegeben hat, sind voller Vorfreude: Nach dem halb ernst gemeinten Scherz im Hamburger Krankenhaus ist ein Bild entstanden: groß, jung, kräftig. 2012 beim Spender-Patienten-Treffen der Stefan-Morsch-Stiftung in Coesfeld sind sie sich begegnet.

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